Category Archives: Kunst

12 in 12 – Der allererste San Lorenzo Carnival

img_9700

Die Musik dröhnt durch die Strassen. Südamerikanische Klänge und Rhythmen, die auch noch so zurückhaltende Passanten dazu animieren, das Tanzbein zu schwingen oder mindestens leicht mit dem Fuss zu wippen.  Das ist der allererste San Lorenzo Carnival, der in direkter Zusammenarbeit mit seinem Pendant im Londoner Stadtteil Notting Hill ins Leben gerufen wurde. Eine wunderbar farbige Angelegenheit. Frohe, glückliche Gesichter überall, eine begeisternde Atmosphäre, pure Lebensfreude  und eine ganz grosse Prise Spontanität. So wie es in Notting Hill wohl vor 30 Jahren mal war, bevor dort der Kommerz einzog.

Dass die Veranstaltung in San Lorenzo,  Roms vielfältigstem und spannendsten Quartier, weitab vom Luxus der Via Condotti, stattfindet, ist kein Zufall. Künstler, Arbeiter und Studenten leben hier Schulter an Schulter. Das ist noch das richtige Rom.  Die grösste Universität Europas, die Sapienza mit seinen 200 000 Studenten, ein wunderschönes ethnisches Wirrwarr, Graffitis an den Wänden, unzählige Bars und Clubs. Das macht San Lorenzo zu einem Mikrokosmos unseres Planeten – so wie wir (oder zumindest ich) ihn gerne überall hätten.

img_9681

img_9686

img_9703

img_9708

img_9715

img_9718

img_9720

img_9722

img_9723

img_9727

img_9729

img_9730

img_9694

 

 

12 in 12 – Marcello Geppetti und das Dolce Vita

img_9641-1

Ein Monat in Rom könnte nicht besser beginnen, als mit einer Ausstellung von Marcello Geppetti, einem der der grössten italienischen Fotografen des 20. Jahrhunderts. Keiner brachte  das Lebensgefühl des Dolce Vita so gut rüber wie der Maestro. Nicht wenige behaupten, er war der erste gute Paparazzi (und damit vielleicht auch der letzte). Ob die Fotos einer furiosen Anita Ekberg,  Sofia Loren im Zwiegespräch mit Vittorio de Sica oder den ersten Kuss zwischen Richard Burton und Elisabeth Taylor: der beste Schnappschuss gelang immer Geppetti. In der Dolce Vita Gallery an der Via Palermo 41 kann man die Fotos in Übergrösse bewundern und ganz tief in die Zeit des grossen italienischen Films eintauchen.

Sophia Loren und Vittoria de Sica
Sofia Loren und Vittorio de Sica

Was war das für eine Zeit. Mit La Dolce Vita von Frederico Fellini begann 1960 der Abschnitt der Grenzüberschreitungen auf der Suche nach neuen Sujets, Formen und Genres. Man begründete den erweiterten Realismus, einen undogmatischen Erzählstil, sowie einen Surrealismus, der Traum und Fantastik wie selbstverständlich in die Darstellung mit einschloss.

Audrey Hepburn in Rom beim einkaufen
Audrey Hepburn in Rom beim einkaufen

Zudem entwickelte sich eine bittere gesellschaftliche Satire. Dazu kamen neue Genres wie der Politthriller und der Italo-Western: ein Jahrzehnt der Aufbrüche in neue Dimensionen. Von Federico Fellini bis Michelangelo Antonioni, von Luchino Visconti bis Pier Paolo Pasolini, von Pietro Germi bis Francesco Rosi, von Sergio Leone bis Bernardo Bertolucci – all das waren grosse Meister ihres Fachs und machten Italien für rund eine Dekade zum Mittelpunkt der Filmwelt – und Geppetti war immer mitten drin.
20090422-1346-paparazzi

Eines der coolsten Bilder von Geppetti ist jenes, in dem ein Priester, der gerade beim turteln mit einer Frau erwischt wurde, dem Paparazzi hinterherläuft und versucht, die Kamera aus der Hand zu reissen, um die Negative sicher zu stellen. Geppetti ist zur Stelle und hält die Situation für die Ewigkeit fest.

12 in 12 – Paradies im Anti-Café

img_9547

Die Klingel unter dem Zifferblatt drücken und kurz warten. Jemand meldet sich durch die Gegensprechanlage. Ich sage: “Zifferblatt” und schon geht die Tür auf. Zwei Stockwerke nach oben. Da ist es wieder dieses Schild mit dem Zifferblatt. Wir stossen die Tür auf. Ist das der falsche Eingang? Hier wohnt doch jemand.
„Kommt rein“ ruft eine junge Frau. Das machen wir. Die junge Frau heisst Olya und fragt uns, ob wir was zu trinken wollen.

img_9544

img_9545Wir sind hier richtig. Goldrichtig. Das ist es also. Das Original Anti-Café. Das „Ziferblat“ an Moskaus Nobelmeile Tverskaya. Gemütlich ist’s hier.  Das Konzept ist einfach. Du zahlst nach der Zeit, die Du hier verbringst. Kaffee, Tee, Kuchen,  kleine Häppchen und alles was du sonst konsumierst ist umsonst. Die erste Stunde kostet drei Euro, danach zwei und ab Stunde vier ist es ganz umsonst. Hier sollst Du verweilen und dich wohl fühlen.

img_9541

img_9539

Hier kannst Du Dich unterhalten oder ein Buch lesen und wenn es sein muss auch im Netz surfen oder Deinen Laptop aufklappen. Hier verkehren Künstler und Studenten aber auch ganz normale Moskauer, die einfach einen Gang zurückschalten wollen. Hier setzt sich mal einfach einer ans Klavier oder fragt Dich, ob Du Lust auf eine Partie Schach hast. Doch eines ist es hier ganz besonders: Eine Oase der Ruhe in einer Stadt, die den Kapitalismus für sich entdeckt hat. Das offizielle Motto: Im Ziferblat darfst Du alles, solange Du Rücksicht auf Deine Mitbesucher nimmst.

wlvlino4fzs

img_9542

Mittlerweile gibt es diese Anti-Cafés in Moskau an jeder Ecke. Auch in London und Berlin hat das Konzept Fuss gefasst. Doch keines ist wie das Ziferblat, das der Lebenskünstler Ivan Mitin 2011 gegründet hat. Während andere genau ausrechnen, was die Stunde kosten muss, damit sich die Sache lohnt, ist Mitin noch immer kein Geschäftsmann. Ohne Gönner könnte das Anti-Cafe  nicht überleben. Zum Glück gibt es viele Gleichgesinnte, denen es wichtig ist, dass es nicht nur Starbucks & Co. gibt, sondern auch Freiräume für alle, die kein dickes Portemonnaie haben. Die Welt braucht mehr Zifferblätter…

12 in 12 – Japanische Invasion in Moskau

img_9503

Was hat ein japanischer Getränkeautomat in einer Unterführung in Moskau zu suchen? DyDo steht drauf und alle Getränke sind japanischer Herkunft mit japansicher Beschriftung. Verwirrend. Das ist keine Versehen. In jeder, aber wirklich jeder Unterführung und jeder Metrostation in Moskau stehen bis zu 20 Automaten. Wie bestellt und nicht abgeholt. Auf Hochglanz poliert, in Reih und Glied. Kein Schabernack oder eine Filmkulisse. Sie sind wirklich da. Einsam und allein. In bald vier Wochen Moskau habe ich noch keinen einzigen Russen gesehen, der dort etwas kauft. KEINEN EINZIGEN.

img_9504

Die Automaten stehen nicht erst seit gestern da. Die ersten wurden vor zwei Jahren aufgestellt. Der riesige japanische Getränkekonzern DyDo hat mit der Stadt Moskau einen Vertrag abgeschlossen, der ihm erlaubt, 90’000!!! Automaten aufzustellen. Wie viele es bisher sind, ist schwer zu sagen. Doch es dürften mehrere Tausend sein. DyDo ist optimistisch und nach eigener Aussage davon überzeugt, dass Moskau mit seinen 12 Mio. Einwohnern 200’000 dieser Automaten absorbieren kann. Sehr schräg. Soda mit Pfirsichgeschmack, Ingwergetränke und andere japanische Köstlichkeiten sind im Angebot. Passt das zu den Russen?

img_9505

DyDo gibt zu Protokoll, der russische Kunde würde die japanische Qualität schätzen und sei gerne bereit, etwas mehr für ein Qualitätsprodukt zu bezahlen. Aha. Das sieht verdammt nach Fokus-Gruppen, Brainstorming in den Managementetagen Tokios und ausgiebigem Market Research aus….Wer sich das nur ausgedacht hat. Doch Moment. Da geht tatsächlich ein etwa 20-jähriger Russe auf den Automaten zu. Genau das Zielpublikum, das sich die Marketingurus wünschen. Er bleibt vor dem Automaten stehen, schaut sich alles genau an und…greift in den Münzauswurf, um zu sehen, ob da Kleingeld liegen geblieben ist. Nichts drin. Na wie könnte da auch was drin sein. Niemand benutzt die Automaten.

12 in 12 – Auf den Spuren von Dr. Schiwago

img_9208

Wer den Vorortszug raus aus Moskau nimmt, taucht schnell in eine andere Welt ein. Die Gesichter der Pendler sind vom harten Leben gezeichnet. Schnell wird einem klar: Nicht jeder profitiert vom Wohlstand des neuen Moskaus. Plattenbauten und Industriekomplexe reihen sich hier aneinander. Ein ernüchternder Anblick. img_9210

Doch nach nur 20 Minuten ändert sich die Szenerie. Nächster Halt: Peredelkino – das Epizentrum der russischen Literaturszene. Hier, mitten in dichten Birkenwäldern, stehen die Datschas, die so manchen grossen Denkern, allen voran die Nobelpreisträger Boris Pasternak und Alexander Solschenizyn Freiräume gegeben haben.

img_9259

Hier hat Pasternak Dr. Schiwago und Solschenizyn das Archipel Gulag, in dem er detailliert die Verbrechen des stalinistischen Regimes beschreibt, geschrieben.

img_9261

Auch Blut Okudzhava, der 1994 für den Roman “Die Show” den Booker-Preis erhielt, zog sich zum Schreiben gerne nach Peredelkino zurück.

img_9264Pasternaks Haus, in dem er von 1936 bis zu seinem Tod 1960 lebte,  ist klein. Ein Garten mit einem Gemüsebeet,  das er selber bestellte, eine Veranda, zwei Schlafzimmer und ein Wintergarten. Dazu ein Klavier, falls sein Freund, der Pianist und Komponist Sergei Rachmaninow, mal vorbeischaute. Schön ist’s hier.img_9212

Gegenüber des kleinen Gärtchens ist ein Zaun hochgezogen. Dahinter eine riesige Baustelle. Hier wird ein kitschiges Mehrfamilienhaus hochgezogen, das wohl für die Reichen und Schönen aus Moskau gedacht ist. Ob die wohl auch bald mit dem Vorstadtzug nach Peredelkino fahren?

Ein Zitat von Pasternak:
Nur ein vollkommen unbedeutender Mensch,
eine unverbesserliche Null, wird sich damit begnügen,
im Leben immer ein und dieselbe Rolle zu spielen,
immer den gleichen Platz in der Gesellschaft einzunehmen
und dieselben Dinge zu tun.

Und was zum Nachdenken von Solschenizyn:
Alles, was in der Ferne vor sich geht und uns nicht direkt bedroht, das heißen wir gut.

Neben dem Trailer für Dr. Schiwago (1965) – ja, genau der mit Omar Sharif  – zur Auflockerung noch ein anderer Klassiker: Dieter Hallervorden auf der Suche nach dem Mittelteil von Dr. Schiwago.


12 in 12 – Neulich im Kreml

img_8888

Er kommt direkt aus dem Kreml, genauer gesagt aus Putins Büro. Unauffällig gekleidet, Krawattennadel, blaugrauer Anzug und eine  schwarze Aktenmappe in der Hand. Das kann nur Anatolij Maximovich Pyrozkov sein. Der Mann aus Kiev soll eine zentrale Rolle spielen, wenn es um die Zukunft der Ukraine geht. Auf welcher Seite er steht, ist nicht mal seinen engsten Vertrauten so richtig klar.

Was hat Pyrozkov mit Putin besprochen und was ist in der Aktenmappe? Wer hat hier wem ein Ultimatum gestellt, was steht auf dem Spiel und wer hat die besseren Karten? Bahnt sich hier gar eine geopolitische Krise an? Pyrozkov, der oft auch „Der Fuchs“ genannt wird, soll auch im Weissen Haus seine Kontaktleute haben. Eine undurchsichtige Sache. Hat er Putin die Nachricht übermittelt, dass über die Krim hinaus in der Ukraine keine Machtansprüche  geltend gemacht werden können oder macht sich Pyrozkov zurück auf dem Weg nach Kiev, um Präsident Poroschenko klar zu machen, dass jeglicher Widerstand zwecklos ist?

Die Antwort liefert nur die schwarze Aktenmappe. Pyrozkov eilt mit forschem Schritt Richtung Haupttor zur Trotskiy-Brücke. Ich hefte mich an seine Fersen. Keiner scheint ihn zu bemerken. Die Masse chinesischer Touristen schirmt mich ab. Raus aus dem Kreml. Es wird langsam dunkel. Ich darf ihn nicht verlieren. Hastig läuft „Der Fuchs“ die Treppe zur Metrostation Aleksandrovsky hinab und steigt in die Linie 4. Kurz bevor die Türe zufällt, quetsche ich mich in den gleichen Wagen. Höchstens einen Meter von Pyrozkov entfernt, starre ich auf seinen verschwitzten Nacken. Die Aktenmappe ist in Griffnähe. Jetzt könnte ich zuschlagen. Ich warte bis zur nächsten Haltestelle. Die Tür geht auf. Das Timing muss stimmen. Zupacken, bevor der Zug weiterfährt. Ich packe zu. Pyrozkov ist total perplex. Er lässt die Mappe los. Ich habe sie fest in der Hand. Die Tür geht zu, doch ich bin durch. Jetzt heisst es rennen. Einfach nur noch rennen, soweit mich die Füsse tragen.

Da tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Es ist ein chinesischer Tourist. „Can you take picture please?” fragt er. Wo kommt der denn her? Wo bin ich? Was? Ich stehe immer noch im Kreml vor dem Büro Putins? Da ist die Fantasie aber gehörig mit mir durchgegangen. Der Herr mit der Krawattennadel ist längst verschwunden und nur die chinesische Touristengruppe ist noch da. Klick. Ich mache das Foto und ziehe von dannen – Richtung Metrostation Aleksandrovsky.

12 in 12 – Bildung oder eine Demonstration der Stärke

IMG_8942

Monstrosität oder architektonisches Weltwunder? Da gehen die Meinungen auseinander. Mir fällt beim Anblick des Hauptgebäudes der staatlichen Universität Moskaus, das mit seinen 240 Metern Höhe fast 40 Jahre das höchste Gebäude Europas war, nur eines ein: Mit den Russen ist nicht zu Spassen. 50,000 Räume, 40,000 Tonnen Stahl, kilometerlange Korridore, in denen man sich garantiert verläuft. Über allem prangert der rote Stern, der für eine klassenlose Gesellschaft steht. Alles sehr kafkaesk.

IMG_8950

IMG_8946

Die meisten Studenten wohnen auch hier. So auch Ewgenij . Er übernachtet zusammen mit seinem Zimmergenossen Oleg in einem Zimmer von 12 Quadratmetern. Die Doktoranden seien einzeln in Zimmern von knapp 8 Quadratmetern untergebracht. So ein Zimmer will er auch mal haben. Doch dahin ist noch ein weiter Weg. Der noch keine 20 Jahre alte Physikstudent ist erst im dritten Semester. „Es ist eng, kostet dafür aber wenig“. Für jeweils zwei Zimmer gibt es je einen Duschraum und eine Toilette, ebenfalls von sehr bescheidener Grösse. Nein, mit reinnehmen das kann er leider nicht. „Nicht erlaubt“. Er müsse weiter, denn die Laborstunde stünde an und die sei enorm wichtig. Nein, fotografieren lassen will er sich nicht.

IMG_8947

Zwischen 1949 und 1953 erbaut im Auftrag Stalins im Stil des sozialistischen Klassizismus, ist der Prunkbau der auffälligste der in der Stadt verstreuten Sieben Schwestern, wie die übergrossen stalinistischen Kathedralen in Moskau genannt werden. Gegründet wurde die Universität 1755 vom Gelehrten Victor Lomonossow. Mit 40,000 Studenten ist sie heute die mit Abstand grösste und beste Russlands. Wer hier studiert, aus dem wird was. Zu den Alumni gehören der Schriftsteller Anton Chekhov, der Poet Boris Pasternak, Friedensnobelpreisträger Andrej Sakharov und Mikhail Gorbachev.

IMG_8945

In Europa gibt es gemäss einer OECD-Studie kein anderes Land mit einem höheren Bildungsstand als Russland. Weltweit können einzig Korea, Japan und Kanada mithalten. Die Literaturklassiker werden den Russen schon in die Wiege gelegt und auch um Naturwissenschaften kommt niemand herum. Dass Bildung allein nicht reicht, um eine funktionierende Gesellschaft zu schaffen, hatte schon Anton Chekhov erkannt. „Ach, wenn man dem Arbeitswillen Bildung verleihen könnte und der Bildung Arbeitswillen!“

IMG_8944