12 in 12 – Von Vorurteilen und dem Guten im Menschen

Die Sonne brennt, die Luft vibriert und die Strasse schlängelt sich den Hügel hinunter ins Tal. Links und rechts beherrschen wundervolle Bäume die Szenerie. Es sind  Joshua Trees. Die Pflanzen, die aussehen wie Kakteen, aber zu den Liliengewächsen gehören, werden bis 18 Meter hoch und bis zu 900 Jahre alt. Wir befinden uns zwischen der Mojave-Wüste und der Colorado-Wüste mitten im Joshua Tree National Park.

Plötzlich ändert sich die Landschaft. Kleinere, putzig, ja fast pelzig aussehende Kakteen überall. Die Gegend trägt den Namen Cholla Cactus Garden.  Das muss ich mir näher ansehen. Die Kakteen strahlen um die Wette. Das pelzige Aussehen hat den mystischen Pflanzen auch den Namen Teddy Bear Cholla eingebracht. Neben den Teddy Bären gibt es auch sogenannte Jumping Chollas. Eine nicht ganz so harmlose Spezies. Bei der kleinsten Berührung werden ganze Stachelbüschel abgesprengt und die greifen dann sozusagen den Eindringling an. Doch dazu gleich mehr.

Der Weg durch die Kakteen ist gut gekennzeichnet. Wir sind fast alleine. Ein paar Meter weiter steht eine junge Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn gerade ein Selfie nach dem anderen schiesst. “Typisch amerikanische Touristin” denke ich. Dann noch ein übergewichtiger Mann der bestimmt gerade aus dem Casino kommt und das All You Can Eat Buffet so richtig ausgenutzt hat. Vorurteile über Vorurteile, ich weiss.

Ich schiesse auch das eine oder andere Foto – schliesslich bin ich ja auch ein Tourist –  und stapfe mit meinen Sandalen durch den Garten. Aufpassen, dass ich nicht zu nahe an die Jumping Chollas gerate, denke ich gerade noch. Doch es ist bereit zu spät. Es sticht verdammt fest.  Ich schaue mein Bein herunter und habe zwei dicke Kaktusbälle an meinem Fuss, die sich mit aller Gewalt festgekrallt habe. Ich versuche vergebens, sie mit dem anderen Fuss abzustreifen

Während ich noch versuche, den klebrigen Ball irgendwie aus meinem Fuss zu ziehen, steht die Mutter, die gerade noch Selfies geschossen hat, schon neben mir. Auch der Casino-Tourist ist sofort da. “Oh, da musst Du aufpassen”, sagt er.  “Halt Dich an mir fest, dann hast Du einen besseren Stand”. Die Mutter zieht sofort ihre beiden Turnschuhe aus und gibt sie mir. “Nimm die Schuhe wie eine Zange und  zieh die Dinger damit einfach raus” rät sie mir. Ich versuche es, doch ohne Erfolg.  Die Stacheln sind tief im Fuss. OK, tief durchatmen und nochmals zeihen. Es schmerzt, doch daran darf ich jetzt nicht denken. Nochmals kräftig ziehen. Tack, die Kaktuskugel ist draussen. Das Blut tropft dort raus, wo vorher die Stachel waren. “Ich habe Pflaster im Auto sagt der Casino-Tourist, der übrigens aus Montreal kommt, gerade wegen einer Konferenz mit seiner Frau in Palm Springs ist, und unheimlich nett ist. Um es abzukürzen. Das Pflaster wirkt Wunder und der Schmerz hat ziemlich schnell nachgelassen.

Ich habe die Geschichte auch nicht erzählt, um bei Euch Mitleid für meinen Kaktuszwischenfall einzuheimsen, sondern weil mir diese kleine Episode gezeigt hat, dass man das Gute im Menschen nicht unterschätzen darf. Wenn was passiert, dann halten wir oft zusammen und lassen alles stehen und liegen. Noch kurz vor dem Zwischenfall hatte ich mich – shame on me – innerlich abfällig geäussert über genau die Leute, die mir nachher selbstlos zur Hilfe geeilt sind. “Don’t judge a book by its cover ” heisst ein Sprichwort. Genau das hat sich wieder mal bewahrheitet. Man kommt besser durchs Leben, wenn man das Glas immer als halbvoll und nicht als halbleer betrachtet und wenn man seinem Gegenüber erstmal positiv gegenüber steht und nicht gleich das Schlimmste befürchtet. Ja, ich weiss, dass das nicht immer einfach ist. Doch einen Versuch ists auf jeden Fall wert.

 

Leave a Reply

Your email address will not be published.